"Demokratie beginnt bei euch Kindern"

Schwerpunktthema: Interview

16. April 2024

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat den Kinderreportern von "Dein SPIEGEL" ein Interview gegeben, das am 16. April veröffentlicht wurde.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier steht mit zwei Kindern der Redaktion "Dein SPIEGEL" im Großen Saal und posiert für ein gemeinsames Foto

Das Grundgesetz ist bald 75 Jahre alt. Warum wird der Geburtstag so groß gefeiert?

Weil wir Grund zum Feiern haben! Wir feiern unsere demokratische Verfassung: das Grundgesetz. Im Grundgesetz stehen die Spielregeln für das Zusammenleben der Menschen hier in Deutschland. Und die wichtigen Grundrechte stehen ganz am Anfang: dass wir frei unsere Meinung äußern, dass wir friedlich demonstrieren können und vieles andere mehr. Daneben stehen auch Aufgaben für den Staat und für die Politik drin, zum Beispiel Tiere und Umwelt zu schützen oder dafür zu sorgen, dass es einigermaßen gerecht zugeht in unserem Land. Das Grundgesetz war die Antwort auf Diktatur, nationalsozialistische Gewaltherrschaft, Vernichtung und Krieg. Vor 75 Jahren ist es in Kraft getreten und gilt seit fast 35 Jahren für das ganze wiedervereinte Deutschland.

Wenn Sie sich einen Satz aus dem Grundgesetz tätowieren lassen müssten, welcher wäre das?

Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Und welches Körperteil würden Sie dafür wählen?

Wenn es sein müsste: die Stirn. Aber für Tattoos bin ich zu alt.

Viele Menschen in Deutschland gehen derzeit auf Demonstrationen, um ein Zeichen für die Demokratie zu setzen. Warum ist die Demokratie so wichtig?

In einer Demokratie können Menschen in Freiheit leben und darauf vertrauen, dass nicht ein Einzelner die Macht übernimmt. Man kann regelmäßig darüber abstimmen, wer zukünftig regieren soll. Demokratie beginnt aber nicht im Bundestag, Demokratie beginnt bei euch Kindern, etwa in der Kita und in der Schule. Wenn ihr zum Beispiel eine Klassensprecherin oder einen Klassensprecher sucht, habt ihr die Wahl. Dabei ist wichtig, dass alle zu ihrem Recht kommen; dass nicht nur die Lautstarken gehört werden, sondern auch die Leiseren.

Auf den Demonstrationen wird auch gegen die AfD protestiert, eine in Teilen rechtsextreme Partei. Sprechen Sie mit Politikern der AfD?

Jeder Bundespräsident muss überparteilich sein. Deshalb gibt es manchmal auch Gespräche mit allen, zum Beispiel mit Ausschüssen des Bundestages. Und wenn ich durch das Land reise und in kleinen Städten zu Gast bin, treffe ich Leute an runden und eckigen Tischen und weiß oft nicht, ob sie überhaupt einer Partei angehören und wenn ja, welcher.

Wenn Sie mit Leuten reden, deren Meinung Sie so gar nicht teilen. Wie macht man das, dass man sich nicht in die Haare bekommt?

Oft kann ich mich auf Termine vorbereiten und mir Argumente zurechtlegen, mit denen ich auf bestimmte Positionen reagiere, die mir nicht behagen. Manchmal muss man schlicht Nerven bewahren, um solche Gespräche durchzustehen. Gott sei Dank ist das die Ausnahme.

Welche Termine mögen Sie besonders?

Es gibt tolle Termine im Ausland, zuletzt etwa Reisen nach Tansania und Sambia oder Thailand und Vietnam. Aber das wird euch jetzt vielleicht wundern: Ich besuche besonders gern die kleineren und mittleren Städte in Deutschland. Dort treffe ich Menschen, die sich für ihre Nachbarschaft oder Gemeinde einsetzen. Wir machen uns zu selten klar, was sie für unser Land leisten. Das sind Leute, die nicht nur auf sich selbst schauen, sondern für andere da sind. Das ist ganz wichtig.

Sie wollten vor vielen Jahren Bundeskanzler werden. Das hat nicht geklappt. Jetzt sind Sie Bundespräsident und haben weniger Macht. Was ist besser daran?

Es ist nicht die Frage von besser oder schlechter, sondern es sind ganz andere Aufgaben. Ich habe 15 Jahre in Regierungen gearbeitet und war vier Jahre lang Oppositionsführer. Ich durfte viele Jahre Deutschlands oberster Diplomat sein. Das waren sicher auch anstrengende Jahre, aber es ist über Hochs und Tiefs in der deutschen Politik hinweg ein erfülltes politisches Leben. Ich bin sehr gern Bundespräsident.

Eine wichtige Aufgabe eines Bundespräsidenten ist das Repräsentieren. Sie müssen dafür sorgen, dass andere Regierungschefs ein gutes Bild von Ihnen haben und somit auch von Deutschland. Wie stellen Sie sicher, dass Sie sich nicht danebenbenehmen?

Das muss man im Laufe der Zeit lernen. Ich war vor diesem Amt sieben Jahre Chef des Kanzleramts und acht Jahre lang Außenminister. Insbesondere die Diplomatie ist ein gutes Training, auch dafür, sich zu benehmen und damit Deutschland im Ausland gut repräsentieren zu können. Aber ich glaube, wir haben den großen Vorteil, dass Deutschland von den allermeisten Staaten sehr respektiert wird. Und davon profitiert natürlich auch ein Bundespräsident.

Haben Sie sich schon mal danebenbenommen?

Das müssen andere beurteilen. Aber manchmal passieren ungewöhnliche Dinge, wie letztens in der Mongolei. Wir waren zum Abschluss unseres Staatsbesuchs in einer Jurte, dem Zelt von Nomaden. Als wir nach draußen kamen, kriege ich plötzlich ein Kamel geschenkt. Da habe ich mich kurz gefragt: Was mache ich jetzt? Grundsätzlich bereitet mich mein Team auf solche Bräuche vor, aber das Kamel hat uns alle überrascht. Ich war froh, als ich dann hörte, dass es in der Mongolei bleiben kann, dass es dort versorgt und gefüttert wird. Niemand erwartet, dass der Gast das Kamel mit nach Deutschland nimmt. Hier im Schloss würde es sich wahrscheinlich auch nicht besonders wohlfühlen.

Durften Sie dem Kamel einen Namen geben?

Ja, ich habe es Winterfreund genannt, weil das Thermometer minus 26 Grad zeigte, als wir vor der Jurte bei den Tieren standen.

Worauf müssen Sie verzichten, seitdem Sie Bundespräsident sind?

Auf viel Freizeit. Ich habe einen Beruf, der nicht nachmittags um fünf zu Ende ist und der wenig Wochenenden kennt. Ich kann nicht von einer Stunde auf die nächste entscheiden, worauf ich gerade Lust habe. Und ich stehe den größten Teil des Tages und der Nacht unter Bewachung. Zum Glück sind die Sicherheitsbeamten freundliche Menschen, die sehr flexibel sind, mich allerdings auch im Urlaub begleiten.

Wenn die Sicherheitsleute auch in der Nacht auf Sie aufpassen: Haben Sie nie das Gefühl, dass Sie mal einen Moment für sich brauchen?

Die schlafen ja nicht bei mir im Zimmer. Aber natürlich: Es ist schade, dass Menschen bewacht werden müssen. Es gibt noch andere Politiker, denen es so geht, darunter sind auch der Bundeskanzler und einige besonders in der Öffentlichkeit stehende Ministerinnen und Minister. Und wenn wir schon über Bewachung reden: Besonders traurig ist, dass aufgrund der deutschen Geschichte Synagogen bis heute bewacht werden müssen. Judenhass darf in diesem Land keinen Platz haben.

Bruno: In meinem Freundeskreis haben Kinder jüdischen Glaubens Angst, Hebräisch auf der Straße zu sprechen. Wie kann man sie schützen?

Die Politik muss dafür sorgen, dass es Gesetze gibt, mit denen Antisemitismus verfolgt werden kann. Justizbehörden und Gerichte haben die Aufgabe, dass Straftaten verfolgt und Täter verurteilt werden. Und wir alle haben die Aufgabe, in unserem Alltag darauf zu achten, dass Jüdinnen und Juden verteidigt werden, wenn sie antisemitisch angegriffen werden. Das gilt auch für jüdische Kinder an Schulen.

Wir leben in unruhigen Zeiten. Welche Sorgen haben Sie?

Das, was die Menschen in Deutschland am meisten beunruhigt, macht auch mir Sorgen. Zurzeit ist das neben einem Wiedererwachen von Rechtsextremismus sicherlich der Krieg in Europa. Ein schrecklicher Krieg, den Russland gegen die Ukraine seit zwei Jahren führt. Schon 2014 hatte Russland begonnen, Teile der Ukraine zu erobern. Damals hat der ukrainische Präsident Deutschland und Frankreich gebeten, ihm in Verhandlungen mit Russland zu helfen. Das haben wir getan, und es gab tatsächlich ein Abkommen, in dem Russland und die Ukraine sich verpflichtet haben, die Waffen ruhen zu lassen und Wege zu einem gerechten Frieden zu suchen. Über diesen Krieg haben wir immer und immer wieder mit der Ukraine und Russland gesprochen. Aber im Ergebnis leider ohne Erfolg: Russland hat die Ukraine mit Soldaten, Panzern und Raketen angegriffen. Die Folgen kennt ihr: viele zehntausende Tote, darunter Soldaten, aber auch Frauen und Kinder. Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer mussten ihr Land verlassen. Nach dem Überfall fühlen viele in Deutschland mit den Menschen in der Ukraine. Und hoffen darauf, dass der Krieg bald aufhört und die geflohenen Familien zurück in ihre Heimat können.

Als Außenminister hatten Sie früher mit Wladimir Putin zu tun. Sie kennen ihn also schon länger. Nun hat er gerade die Wahl in Russland gewonnen, und Sie haben ihm nicht gratuliert. Warum nicht?

Ich habe Putin nach der Wahl 2018 einen Brief geschrieben. Mir war wichtig, ihm unsere Erwartungen zu schildern, dass sich Russland seinen Nachbarn gegenüber friedlich verhält und anständig umgeht mit den Menschen im eigenen Land. Tatsächlich hat er das Gegenteil gemacht. Russland hat einen Krieg begonnen und Menschen, die die Regierung kritisiert haben, ins Gefängnis gesteckt. Deshalb war es aus meiner Sicht nicht ratsam, denselben Brief nochmal zu schreiben.

Sie haben viele anstrengende Termine. Was machen Sie, wenn Sie sich entspannen wollen?

Wenn möglich, fahre ich am Wochenende Rennrad, und in den Ferien gehe ich in die Berge. Wenn es steil bergauf geht, man bald keine Leute mehr trifft und die Kondition nachlässt, dann ist man nur noch mit sich selbst beschäftigt. Berlin und Politik sind dann ganz weit weg. Und ich bin nie ohne Buch unterwegs. Auch Lesen entspannt mich.

Gibt es ein Buch aus Ihrer Kindheit, das Sie besonders mochten?

»Wir Kinder aus Bullerbü« von Astrid Lindgren. Das hängt vielleicht damit zusammen, dass ich auch in einem kleinen Dorf gewohnt habe. Und Bullerbü war so eine schöne Vorstellung davon, wie friedlich und überschaubar das Leben sein könnte. Vielleicht habe ich damals schon geahnt, dass das nicht die Realität sein wird, mit der man es als Erwachsener zu tun hat. Aber es hat mich immer auf neue Ideen gebracht. Als ich anfing, Zeitung zu lesen, war für mich als Fußballer schnell klar, dass ich Sportjournalist werden will. Das hat sich später geändert, als ich Architektur zu meinem Traumberuf erklärte. Tatsächlich habe ich schließlich Jura studiert. Daher mein Rat an alle, die mich fragen, wie man sein Leben gestalten soll: möglichst nicht zu früh festlegen. Denn die Chancen ergeben sich auf dem Weg.

Die Fragen stellten die Kinderreporter Clara (14) und Bruno (13)